Es
sind die Gratwanderungen, die ermüden. Wenn man sich an den
Abgründen des Vergessens entlang hangelt, ahnt man nicht, wieviel
Wegstrecke man schon hinter sich gebracht hat. Die unsichtbaren
Netze, die sich über die gelebte Erinnerung spannen, geben nur vor,
einen aufzufangen. Drei oder vier Fingerabdrücke genügen, um in
Panik zu verfallen. Man hinterläßt Spuren, wo keine Liebe
hingelangt.
Dagegen sind die Tritte im Schnee, denen der Einsame in
Franz Schuberts „Winterreise“ folgt, fast schon ein Glücksfall,
so selten und wertvoll wie ein handgeschriebener Brief. Hinter den
aufgespannten Kontrollschirmen kann sich keiner mehr verbergen.
Ich
bin auf der Suche nach dem Staunen. Ist es irgendwo zwischen einem
Kindergeburtstag und dem ersten Beischlaf auf der Strecke geblieben?
Oder bereitet es nur zu viel Mühe, sich darauf einzulassen? Macht
seine Zwitterstellung zwischen bloßer Verblüffung und
Außer-sich-sein die Einordnung so schwer? Ich behaupte, auch Staunen
ist Arbeit, eine Arbeit, in deren Prozeß ein Produkt entsteht. Die
Erkenntnis, die wir dem Staunen abringen, läßt sich vielleicht
nicht in Worte fassen. Doch gerade das macht sie mir vertraut. Ich
trage etwas in mir, das nicht verifizierbar ist, also auch nicht
digitalisiert werden kann.
*
Ein
anderes Wort, das in die Spielzeugkiste verbannt wurde, ist
Heimlichkeit. Warum, frage ich mich, verwende ich es nicht bei
meiner täglichen Arbeit, dem Schreiben von Gedichten etwa. Das
Weihnachtslied „So viel Heimlichkeit“, das in Kindergärten und
Schulhorten der DDR gesungen wurde, fand ich immer etwas peinlich.
Einst bestand die Hoffnung (oder die Befürchtung), daß es in
absehbarer Zeit in Vergessenheit gerät. Jetzt geistert es wie so
viele andere Lieder, die ich als Kind schon nicht mochte, durch die
virtuellen Schaukästen, bis es mittels eines finalen Knopfdruckes
gelöscht wird. Ein Grund, warum ich das Lied nicht mag, sind die
verharmlosenden Aufzählungen, der Einbruch des Niedlichen und
Gegenständlichen in eine viel umfassendere Gespanntheit, die mit
Neugier nur unvollkommen umschrieben wäre.
Wie
herrlich waren die heimlichen Blicke in Schränke und hinter
Vorhänge, wo die Eltern die Weihnachtsgaben, in Kartons oder in
Packpapier gewickelt, aufbewahrten! Es fehlte nicht an Kühnheit,
diese Pakete aufzuschnüren, obwohl man manchmal schon von ihrer Form
auf den Inhalt schließen konnte. Letztendlich ließ ich sie
unangerührt. Der Wunschzettel hatte sein Schuldigkeit getan. Ich
schlief ruhiger und war doch seltsam erregt. Die Grenze zwischen
Ahnen und Wissen nicht überschritten zu haben, steigerte die Lust
ins Unermeßliche. Später habe ich diese Erfahrung ignoriert und
mich von den Gewißheiten enttäuschen lassen. Ein Kuß der nach
Kaugummi oder Zigarettenrauch schmeckt, entzaubert die reine Idee
eines Kusses. Wieder Jahrzehnte danach gaukelt einem die Erinnerung
vor, die nach Kaugummi oder Zigarettenrauch schmeckenden Küsse seien
köstlicher gewesen als alle, die dann folgten.
*
Das
Heimliche – so steht es in den Märchen der Gebrüder Grimm – muß
das Unheimliche einschließen, sonst wirkt es fade. Der Vorrat
an Schrecklichem ist in den Grimmschen Märchen so groß, daß er
fürs ganze Leben reicht. Nur um Haaresbreite verfehlt es die Kinder,
die sich im Wald verlaufen haben. Obwohl man den glimpflichen Ausgang
bereits kennt, staunt man, daß sie beim erneuten Hören oder Lesen
wieder ungeschoren davonkommen. Das lateinische stupor läßt
sich mit Erstarren oder Staunen, gar mit Stumpfsinn
übersetzen. Starr vor Staunen wäre ich am Heiligabend gern gewesen,
stattdessen bemerkte ich zuerst die Fehler der Versuchsanordnung. Der
Plüschbär hatte die falsche Farbe, er schielte. Die Bücher
entsprachen meinen Interessen von vor einem halben Jahr. Die
Gummi-Indianer paßten in Größe und Bemalung nicht zu meiner
restlichen Sammlung usw. usw. Auch der Gabentisch, so meine frühe
Einsicht, bot nur Gewißheiten. Das Staunen des Kindes war
vorgetäuscht.
Unheimliches
wurde mit Schweigen bedacht oder bagatellisiert, unter den Teppich
gekehrt oder, wenn es erzieherischen Maßnahmen dienlich war, als
Drohung im Raum stehen gelassen. Es gab Unheimliches, das an einem
selbst stattfand. Falls das Unaussprechliche entdeckt wurde, drohte
dem Kind galoppierende Verblödung. Die Phantasie malte sich das in
Höllenfarben aus. Ich hatte ja schon Kinder mit Wasserkopf und
Tobsüchtige gesehen. Dank meinen Großeltern väterlicherseits hatte
ich genaue Vorstellungen von einer Irrenanstalt. (Damals scherte sich
noch keiner um politisch korrekte Bezeichnungen.) Meine Großeltern
waren keine Insassen, sie arbeiteten dort, und ich verbrachte einen
Teil meiner Ferien bei ihnen. Die Anstalt glich einem Dorf, nur daß
die Mehrzahl der Fenster vergittert war. Hier wäre ich aus dem
Staunen nicht mehr herausgekommen, hätte mich nicht die permanente
Angst begleitet, einmal hinter diesen Gitterfenstern zu landen. Dort
herrschte stupor bestenfalls als Stumpfsinn. Anders als in den
Märchen kam hier keiner heil wieder heraus. Ich habe davon
ausführlich im Roman „Der Schnakenhascher“ erzählt.
*
Das
Staunen ist ein Geschenk, genauso wie der Glaube an Wunder. Zu beidem
muß man sich die Überzeugung, daß es nicht erklärbare
Erscheinungen gibt, bewahren. Unserer Generation wurde diese
Überzeugung schon mit dem ersten Schultag ausgetrieben. Ursache und
Wirkung, Anstrengung und Erfolg – diese Paare bildeten die
Konstanten, gegen die das dunkle Geheimnis keine Chance haben sollte.
Hell waren die Räume und hell die Stimmen, die zukunftsfroh der
Sonne entgegensangen. Die Sonne, hieß es, sei ein Stern unter
Sternen. Die aufgehende Sonne war mehr als das, sie war ein Sinnbild,
und Sinnbilder gehörten wieder in eine andere Sphäre. Den Symbolen
des Aufbruchs wäre ich bedenkenlos gefolgt, hätte man sie in ein
weniger nüchternes Gewand gekleidet. Dem Sozialismus, wie er uns
nahegebracht wurde, fehlte aber der magische Glanz. Das Dogma von der
Gesetzmäßigkeit aller Entwicklung hin zu einer klassenlosen
Gesellschaft stutzte der Phantasie die Flügel. Unsere Lehrer
schienen den Botschaften, die sie zu verkünden hatten, ebenfalls zu
mißtrauen. Zu oft wechselten die Zutaten, so daß sie selbst nicht
mehr hinterherkamen.
Aus
heimlich wurde klammheimlich. Wer etwas klammheimlich
tut, trägt schon vorher Bedenken wegen der Rechtmäßigkeit seines
Tuns. Die Verbote und Tabus wuchsen in dem Maße, in dem die Welt
ihre Entzauberung erfuhr. Der götterlose Himmel war zum Laboratorium
für piepsende und silberfischige Wesen degradiert worden. Haben wir
darüber gestaunt? Ich glaube nicht. Vielmehr sollte die Eroberung
des Kosmos unseren Forscherdrang wecken. Das Unerklärliche wurde auf
ferne Planeten ausgelagert. Sah man genauer hin, wiederholte sich
dort nur das, was sich auf der Erde vor Millionen oder Milliarden von
Jahren abgespielt hatte. Über intelligente Fliegen oder
fortpflanzungsfähigen Schleim konnte man sowenig staunen wie über
Dinosaurier oder Kopffüßer. Eher schon über das Rätsel, warum von
den vier Bartträgern, die jeweils ein ganzseitiges Foto im
einbändigen Lexikon bekommen hatten, der Schnauzbärtige nicht mehr
erwähnt werden durfte. Ich war froh, daß es nicht einen der beiden
mit den schönen Vollbärten betraf. In einer ziemlich bartarmen Zeit
aufwachsend, hielt ich einen Vollbart für die Verkörperung
absoluter Weisheit. Ob es sich dabei um die Sehnsucht nach einem
Übervater handelte, weiß der Himmel.
*
Heimlich
besuchte ich einen weißbärtigen Kunstmaler, der im Haus meines
Zahnarztes unterm Dach sein Atelier hatte. Niemand hatte es mir
verboten, dorthin zu gehen, weil ich die Besuche für mich behielt.
Mein Instinkt sagte mir aber, daß es meinen Eltern nicht recht sein
würde, also brachte ich sie gar nicht erst in Verlegenheit. Hier
durfte ich ungestört staunen und den Glauben an die Gestaltwerdung
einer Idee verwirklicht sehen. Vorwiegend waren es Christusköpfe,
fein mit Bleistift oder Rötel aufs Papier gezeichnet, und natürlich
erkannte ich die beiden Mosaiken überm Portal der
Paul-Gerhardt-Kirche darin wieder. Das Betreten der Kirche war mir
untersagt. Ich rächte mich, indem ich Mosaiksteinchen aus den
Evangelisten an den Seitenkappellen herausschlug.
Klammheimlich
schlich ich mich doch einmal am Ende eines Gottesdienstes in die
Kirche. Der Reiz des Verbotenen mischte sich mit der Erwartung von
etwas Unanständigem. Warum sonst wollten meine Eltern nicht mit mir
hineingehen? Stattdessen umgab mich der Geruch alter Frauen und
feuchter Mäntel. Die Kälte des Raumes war mir unangenehm, auch fand
ich in der schlichten Einrichtung wenig von dem wieder, was ich mir
erhofft hatte. Unanständig war höchstens die fast nackte
Gestalt, die mit Händen und Füßen an ein hölzernes Kreuz genagelt
war. Ich hatte zwar schon Abbildungen der Kreuzigung gesehen, wußte
auch, daß es sich um Jesus handelte, aber gehörte der nicht zu
einem finsteren, längst vergangenen Zeitalter? Der aus Holz
geschnitzte Körper wirkte hingegen so lebensecht, daß ich meinte,
die Nägel durchbohrten meine Hände und Füße. (Es war wohl eine
abgeschwächte Form von Wundmalschmerz, wie er bei besonders frommen
Menschen manchmal auftritt, bis hin zu den als Wunder geltenden
sichtbaren Stigmata.) Ich spürte, wie er der Schmerz auch von meinen
Armen Besitz ergreifen wollte. Die Schwere des Körpers zerrte an den
Armen, so daß die Schultergelenke aus ihren Pfannen gedreht wurden
und man das Zerreißen der Sehnen jeden Moment erwartete. Tiefe
Hoffnungslosigkeit ging von dem Gekreuzigten aus. Die Erschütterung
war enorm. Als atheistisch erzogenes Kind hatte ich ja keine Ahnung
von der Auferstehung und sah nur die reine Qual, die ein süßes und
wollüstiges Mitleid erregte.
Von
den Christus-Porträts im Künstleratelier war mir das leidende
lieber als das triumphierende. Da der gemarterte Körper fehlte,
strahlten die Gesichtszüge lediglich etwas Entrücktes,
Vergeistigtes aus. Der Maler hatte den Schmerzenskopf mit der
Dornenkrone auf eine Staffelei gepinnt, als ob er noch daran
arbeitete. Tatsächlich stand es im immer halbfertigen – für mich
vollendeten – Zustand an der gleichen Stelle neben der Tür. Für
seinen Broterwerb kopierte der Meister nach Paßbildern. Seine
Kundschaft waren ältere Damen, die Familienangehörige porträtieren
ließen, ihre Ehemänner, die im Krieg gefallen waren, oder die
Enkelkinder, deren Anmut so rasch verflog. Wie bewunderte ich die
fleckige Hand, die mit wenigen Linien die Umrisse maßstabgerecht
aufs Papier zeichnete, um dann durch Stricheln, Schraffieren und
Verreiben der Pigmente zu Schatten das Original an Perfektion zu
überbieten. Wir haben kaum ein Wort miteinander gewechselt. Es war
die Ehrfurcht vor dem Handwerk, die mich stumm machte, und auch der
Maler respektierte meine Ergriffenheit. Er wußte noch, daß man
einem Kind nichts erklären muß, wenn man es ernst nimmt.
*
Menschen,
die das Staunen noch nicht verlernt haben, erregen oft Anstoß. Das
verbindet zum Beispiel Kinder und Künstler. Wie man Kindern das
Staunen austreibt, habe ich bereits angedeutet. Bei Künstlern ist
die Sache komplizierter. Ihre Einmischung wird nur dort gern gesehen,
wo sie kontrollierbar ist, auf Bühnen und in Konzertsälen, in
Galerien und Museen, auf der Kinoleinwand oder in Büchern. Der
Schaden bleibt begrenzt, sozusagen innerhalb der Gemeinde. Weil das
Staunen in der unheimlichen Welt nicht vorgesehen ist,
vermutet man dahinter nicht selten Blödheit. Die privilegierten
Blöden, denen ein gewisser Sonderstatus zugebilligt wird,
vorausgesetzt, sie halten sich an die Spielregeln, dürfen in vielen
Gewändern modernen Narrentums auftreten. Sie, die doch eigentlich
das Staunen in die Welt tragen müßten, werden ihrerseits bestaunt
wie Affen im Käfig. Der Sensationshunger jenseits des Käfigs wächst
ununterbrochen, da sich der Schauwert des scheinbar Anstößigen
immer schneller abnützt. Das Publikum merkt zu rasch, daß die
Provokation nur vorgetäuscht, der Skandal als zusätzlicher
Werbeeffekt einkalkuliert war. So verwischen sich die Bedingungen,
unter denen Kunst produziert und konsumiert wird.
Der
staunende Künstler, der sich den Spielregeln nicht unterwirft, gilt
hingegen als naiv, wobei die Grenzen zu dem, was man als stumpfsinnig
ansieht, fließend sind. Auch er wird, sofern man ihn nicht im Getöse
des Betriebs völlig übersieht, bestaunt. Aber nicht für sein Werk,
sondern dafür, daß er aus seiner Blödheit kein Kapital schlägt.
Es wird nicht an Ratgebern fehlen, die den Naiven auf sein Manko
hinweisen, und falls er nicht unerschütterlich an sich glaubt, wird
er schon in der nächsten Saison mit seiner Naivität kokettieren.
Nun kann man ihn endlich eingemeinden. Sein Stupor, das Erstarren vor
dem Unfaßbaren, dem er sein Stammeln und Stottern verdankt, seine
hingerotzte Wut, wird endlich der Verwertung zugeführt.
Vielleicht
liegt es an diesem reibungslosen Automatismus, daß Kunstskandale so
oft einen fatalen Beigeschmack haben. Die protestierenden
Tierschützer im Vorfeld eines Theaterspektakels, bei dem Tiere
geschlachtet werden, oder das buhende Publikum im Saal sind Teil der
Inszenierung. Die Empörten spielen ihren Part so perfekt, als ob sie
ihre Rolle von einer eingeblendeten Texttafel ablesen. Verleger und
Filmproduzenten werben schon vor Erscheinen ihrer Mega-Produkte mit
den darin vorkommenden Tabuverletzungen. Der Käfig mit den
onanierenden Affen lockt immer genügend Schaulustige an. Schaulust
ist der Ersatz für das aus unserer Welt verbannte Staunen. Und statt
das Geheimnis, das allem Schöpferischen vorausgeht, zu bewahren,
verlangt der Markt seine vollständige Enthüllung. Ohne sie bleibt
das Kunstwerk suspekt, ja es stört den Betrieb geradezu, da es
offenbar gar nichts Obszönes oder wenigstens Neurotisches
vorzuweisen hat.
*
Staunen
und Hunger nach Sensationen sind ein ungleiches Paar. Beim Staunen
kommt das Überraschende einer Situation oder einer Erscheinung
hinzu, die Reaktion ist allerdings mehr nach innen gerichtet. Daher
auch der leicht verwirrte Eindruck, den der Staunende auf andere
macht. Für einen kurzen Moment gibt sich der Staunende eine Blöße,
wird lächerlich, wird angreifbar. Zugleich sprechen wir von einem
Zustand, den wir mit uns selbst abmachen müssen, auch dann, wenn wir
Teil einer staunenden Menge sind, etwa bei einem Zirkusbesuch oder in
einer Zaubershow. Die Zirkusmanege oder das Varieté, in dem ein
Zauberkünstler auftritt, sind gewissermaßen Grenzorte, in denen
sich Sensationslust und Staunen begegnen. Der Staunende kann sich in
der Masse verbergen, auch wenn sie weniger ergriffen ist als er und
nur vom Nervenkitzel angelockt wurde. Der erste Zirkusbesuch eines
Kindes gewährt noch das pure Gefühl, etwas Wunderbarem beizuwohnen.
Schon beim nächsten Mal achtet das Kind mehr auf die technischen
Details, läßt sich nicht mehr für „dumm“ verkaufen. Ich habe
solche Enttäuschungen erlebt. Das Wissen um die Tricks, auch wenn
man sie nicht durchschaute, schmälerte den Genuß, es brachte einen
dazu, altklug und abgeklärt zu reden; man wollte ja nicht mit den
Kleinen, die offenen Mundes auf dem Schoß oder den Schultern ihrer
Eltern saßen, in einen Topf geworfen werden. Noch später wird man
sagen, daß ein aufgespanntes Netz unter der Hochseiltruppe deren
Können herabsetze, weil es nicht um Leben und Tod gehe. Der
Sensationssüchtige hat über den Staunenden gesiegt.
Hat
einer meiner Altersgenossen, damals waren wir dreizehnjährig, über
den ersten Schritt eines Menschen auf dem Mond gestaunt? Meine
Erinnerung an den Tag ist ausgelöscht. Zu viele Bilder bekam ich
erst mit Verspätung zu Gesicht, so daß ich nicht einmal weiß, ob
ich vor dem Fernseher saß. Man muß hinzufügen, daß meine Eltern
1969 noch kein Westfernsehen empfingen. Brachten die Nachrichten der
„Aktuellen Kamera“ überhaupt die Liveaufnahmen von der
Mondlandung?
Tatsache
ist, daß ich nicht den geringsten Zweifel am Gelingen der
amerikanischen Mondmission hegte, trotz vorausgegangener Pannen und
des bis dahin unangefochtenen Vorsprungs der Sowjetunion im Weltraum.
Der Glaube an die Perfektion der Technik hatte nur ein paar Kratzer
abbekommen, und die saloppe Art, mit der die Amerikaner die Sache
angingen, zerstreute die Zweifel. Hier der Heldenkult um die
Kosmonauten als Sendboten des Kommunismus, dort Armstrongs Formel vom
„Job, der zu schaffen ist“. Diese Lässigkeit hatte was von einem
Westernhelden. Sie imponierte mir. Heimlich wurde ein Bildband über
die Mondlandung – er stammte aus einem westdeutschen Verlag –
weitergereicht, während die offizielle Propaganda nicht müde wurde,
uns für das sowjetische Mondspielzeug Lunochod zu begeistern. Das
kam zwar erst ein Jahr später zum Einsatz, aber auch das bunt
bebilderte Buch hatte seine Zeit gebraucht, bis es ein furchtloser
Besucher durch die Grenzkontrolle zu schmuggeln wagte. Die
Heimlichkeit der Lektüre machte erst den Reiz aus. Andernfalls hätte
mich das Thema nicht so lange gefesselt. Schließlich fehlte es den
realen Weltraumabenteuern an allem, was sie erst richtig aufregend
gemacht hätte: außerirdische Intelligenz, Wurmlöcher,
Zeitschleifen, Antimaterie etc. Die Steinwüste auf den Mondfotos war
nicht annähernd so eindrucksvoll wie der Anblick des wechselhaften
Trabanten von der Erde aus.
*
Seitdem,
seit den Pioniertagen der Raumfahrt, hat sich unser Weltbild ständig
dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung anpassen müssen.
Eigentlich dürfte man aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Das
Gegenteil ist der Fall. Gewöhnt daran, die Welt nicht mehr zu
begreifen, nimmt man die Entdeckung ferner Galaxien, fast so alt wie
das Universum selbst, und immer winzigerer Elementarteilchen oder die
gentechnischen Möglichkeiten zum Klonen der eigenen Spezies eher
beiläufig zur Kenntnis. Wie die technischen Geräte, vor deren
Innenleben jeder Laie kapituliert, bleiben auch die Modelle des
Mikro- und Makrokosmos ohne Spezialkenntnisse ein Buch mit sieben
Siegeln. Universelles Wissen – das Ideal der Aufklärung – ist im
Zeitalter der größtmöglichen Verfügbarkeit von Informationen
unerreichbarer geworden als je zuvor. Kein Wunder, daß Kontroversen
eher auf Nebenschauplätzen ausgetragen werden. Darf ein
Weihnachtsmarkt noch Weihnachtsmarkt genannt werden, ist die
Bezeichnung Frau Professor diskriminierend etc.? Das Nahen eines
Kometen lenkt für einen Moment die Aufmerksamkeit von Kopftuchstreit
oder Gender-Diskussionen ab. Ist er vorbeigeschrammt, geht man wieder
zur Tagesordnung über.
Weltuntergänge
sind nie zuvor so exakt und medienwirksam vorhergesagt worden. Als im
Dezember 2012 wieder mal so ein ultimatives Datum bevorstand, hat
wohl kaum jemand ernsthaft von der Planung einer Silvesterparty
Abstand genommen. Und wer schon wird sich über die Folgen der
Erderwärmung den Kopf zerbrechen, wenn er bei -10° C den Schnee
vorm Gartentor räumen muß! Auch Klimamodelle kann der Laie nicht
mehr mit seinem Schulwissen beurteilen. Die Aufklärung versagt, wenn
sie zur Glaubensfrage mutiert, und erst recht, wenn ihre Aussagen
bedeuten, auf liebgewordene Gewohnheiten zu verzichten.
Enthüllungen,
das große Geschäft mit der Gier nach dem Splitter im Auge des
anderen, werden häufig eingeleitet mit dem Satz: Er/ sie/ die
Hausbewohner/ die ganze Stadt/ der Staat oder die gesamte
Öffentlichkeit schlechthin waren geschockt. Oder besser noch, sie
standen unter Schock. Was am 11. September 2001 für die westliche
Welt noch Ausdruck ehrlich empfundener Betroffenheit war, wird
angesichts der inflationären Schockstarre, die bei jedem Anlaß über
ganze Bevölkerungsgruppen hereinbricht, zur Farce.
*
Weil
das Unheimliche längst zur Alltagskultur gehört, ob im
Frühstücksfernsehen oder in der vom Dauerregen zerweichten Zeitung,
möchte man seine private Klimakatastrophe möglichst vielen Menschen
mitteilen. Im Mittelalter diente der Pranger zur Bloßstellung des
Einzelnen gegenüber der konformen Masse, mittlerweile wird das vom
Einzelnen selbst in den sogenannten sozialen Netzwerken
übernommen. Der Begriff sozial hat allerdings in den letzten
20 Jahren nicht nur einen Bedeutungswandel erfahren, vielmehr ist er
zur Beliebigkeitsfloskel verkommen, die man vor allem dann
voranstellt, wenn unsoziale Gepflogenheiten oder Tatsachen
verschleiert werden sollen: der Sozialstaat, die sozial Schwachen,
soziale Randgruppen, sozialverträgliches Frühableben, sozial
abgefederte Sparmaßnahmen etc.
Wer
nicht mehr staunen kann, darf sich zumindest noch wundern. Dazu
liefert auch die seriöse Wissenschaft reichlich Material. Daß die
Erde verbeult durchs Weltall schlingert, daß wir unsere Existenz nur
einem winzigen Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie
verdanken und daß Myriaden noch unentdeckter, bizarrer Lebewesen in
den Tiefseegräben ihrer Namensgebung entgegen fiebern, sind solche
Häppchen, mit denen wir das mit Wundern knausernde Tagespensum
leichter ertragen.
Ein
Nebeneffekt der entzauberten, unheimlichen Welt ist die
steigende Sehnsucht nach Schicksalsweisern. Ernst Jünger hat diesen
Trend bereits für das 20. Jahrhundert diagnostiziert („An der
Zeitmauer“, 1959). Täglich lesen Millionen von Menschen weltweit
ihr Horoskop, ganz gleich, wie widersprüchlich die für denselben
Tag gegebenen Ratschläge in verschiedenen Zeitungen ausfallen. Das
offensichtliche Nichteintreffen astrologischer Prophezeiungen hindert
viele nicht daran, aus einer noch so vagen Vorhersage oder Empfehlung
ein Körnchen Wahrheit für sich zu beanspruchen. Daß nicht
konfessionell gebundene Menschen empfänglicher für Astrologie und
andere Vorzeichen sind als die, die einer Glaubensgemeinschaft
angehören, dürfte niemanden wirklich erstaunen. Hartgesottene
Gottesleugner wird man vergebens dazu bewegen können, an einem
Freitag, dem 13., wichtige Entscheidungen zu treffen. Sie wechseln
diskret die Straßenseite, wenn eine schwarze Katze ihren Weg quert,
klopfen auf Holz oder machen heimlich drei Kreuze. So gleicht sich
der Mangel an Glauben durch Aberglauben aus, was keine Herabsetzung
sein soll, vielmehr beweist es die Tatsache, daß der Mensch auch im
Computerzeitalter und trotz anstehender Marsbesiedelung nicht
aufhören kann, nach göttlichen oder wenigstens übersinnlichen
Vorzeichen zu suchen. Hierher gehört übrigens auch die
Wissenschaftsgläubigkeit, wo sie zum Untermauern eigener
Befindlichkeiten oder zur Durchsetzung ganz egoistischer Interessen
dient. Expertenmeinungen, die den eigenen Standpunkt bestätigen,
bekommt man so wohlfeil wie Heilsbotschaften.
Heimlichkeit
und Staunen behaupten also weiter ihren Platz im Leben vieler
Zeitgenossen. Ist ihre Verteidigung gegen die allseits befürchtete
Abschaffung der Privatsphäre und gegen die elektronischen
Taktvorgaben im Tagesablauf womöglich überflüssig? Empfinden wir
es als Verlust, wenn der Schauer des Einmaligen und des nicht
Mitteilbaren immer öfter ausbleibt? Noch haben wir es vielfach
selbst in der Hand, wo und wem wir unsere ideellen oder realen
Fingerabdrücke hinterlassen, um zur Gemeinschaft der Unheimlichen
dazuzugehören. Es wird aber nicht ausbleiben, daß die
Rückzugsgebiete spärlicher werden, und vor allem werden sie härter
umkämpft sein.
*
Es
sind die Gratwanderungen, die ermüden. Zwischen Vergessen und
Erinnern schlängelt sich der Pfad vom fern Versunkenen ins fern
Vernebelte. Zurückschauen erhöht die Gefahr zu stolpern, bedeutet,
das Tempo zu vermindern. In einer Zeit, die der Beschleunigung
huldigt, auch wenn es an Mahnungen nicht fehlt, ist jedes Innehalten
ein Störfaktor. Ohne die Pausen, in denen ich Erinnerungen nachhänge
und sie mit dem, was mich am Tage beschäftigt hat, in Beziehung
setze, käme ich mir aber fremdbestimmt und ferngesteuert vor, wie
jenes Mondmobil, das alle Aufgaben präzise erfüllt hat, doch nie
die Schönheit der aufgehenden Erde empfand. Ich habe keine Ahnung,
wieviel an eigenen Erlebnissen unwiederbringlich verloren ist.
Heimlich haben sie sich davon gestohlen. Dann wieder überrascht mich
eine Begebenheit, von der ich nicht vermutete, daß sie noch abrufbar
war. Und weil sie nirgendwo sonst als in meinem Kopf aufbewahrt wird,
ist sie sicher vor der Sammelwut anonymer Späher und ihren
unersättlichen Datendepots. Niemand kann wissen, wie lang die zu
noch bewältigende Wegstrecke sein wird, und ob ihn unterwegs einmal
die Sehnsucht nach dem Unbekannten so heftig packt, daß er alles
Vertraute hinter sich läßt und einen Sprung wagt, ohne den Ort des
Auftreffens zu kennen. Nur, daß das Ende der Wanderung ein letztes
großes Staunen bereithält, dessen bin ich mir sicher.
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