tag:blogger.com,1999:blog-25809370776361971732024-03-05T03:59:29.037-08:00Thomas Böhme: Lyrik & ProsaAnonymoushttp://www.blogger.com/profile/08823607379653018927noreply@blogger.comBlogger4125tag:blogger.com,1999:blog-2580937077636197173.post-5182775168814605592013-12-29T13:29:00.000-08:002013-12-29T13:29:50.656-08:00Heimlichkeit & Staunen<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Es
sind die Gratwanderungen, die ermüden. Wenn man sich an den
Abgründen des Vergessens entlang hangelt, ahnt man nicht, wieviel
Wegstrecke man schon hinter sich gebracht hat. Die unsichtbaren
Netze, die sich über die gelebte Erinnerung spannen, geben nur vor,
einen aufzufangen. Drei oder vier Fingerabdrücke genügen, um in
Panik zu verfallen. Man hinterläßt Spuren, wo keine Liebe
hingelangt. </span></div>
<br />
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<a name='more'></a><span style="font-size: large;">Dagegen sind die Tritte im Schnee, denen der Einsame in
Franz Schuberts „Winterreise“ folgt, fast schon ein Glücksfall,
so selten und wertvoll wie ein handgeschriebener Brief. Hinter den
aufgespannten Kontrollschirmen kann sich keiner mehr verbergen.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Ich
bin auf der Suche nach dem Staunen. Ist es irgendwo zwischen einem
Kindergeburtstag und dem ersten Beischlaf auf der Strecke geblieben?
Oder bereitet es nur zu viel Mühe, sich darauf einzulassen? Macht
seine Zwitterstellung zwischen bloßer Verblüffung und
Außer-sich-sein die Einordnung so schwer? Ich behaupte, auch Staunen
ist Arbeit, eine Arbeit, in deren Prozeß ein Produkt entsteht. Die
Erkenntnis, die wir dem Staunen abringen, läßt sich vielleicht
nicht in Worte fassen. Doch gerade das macht sie mir vertraut. Ich
trage etwas in mir, das nicht verifizierbar ist, also auch nicht
digitalisiert werden kann.</span></div>
<br />
<br />
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<span style="font-size: large;">*</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Ein
anderes Wort, das in die Spielzeugkiste verbannt wurde, ist
<i>Heimlichkeit</i>. Warum, frage ich mich, verwende ich es nicht bei
meiner täglichen Arbeit, dem Schreiben von Gedichten etwa. Das
Weihnachtslied „So viel Heimlichkeit“, das in Kindergärten und
Schulhorten der DDR gesungen wurde, fand ich immer etwas peinlich.
Einst bestand die Hoffnung (oder die Befürchtung), daß es in
absehbarer Zeit in Vergessenheit gerät. Jetzt geistert es wie so
viele andere Lieder, die ich als Kind schon nicht mochte, durch die
virtuellen Schaukästen, bis es mittels eines finalen Knopfdruckes
gelöscht wird. Ein Grund, warum ich das Lied nicht mag, sind die
verharmlosenden Aufzählungen, der Einbruch des Niedlichen und
Gegenständlichen in eine viel umfassendere Gespanntheit, die mit
Neugier nur unvollkommen umschrieben wäre.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Wie
herrlich waren die heimlichen Blicke in Schränke und hinter
Vorhänge, wo die Eltern die Weihnachtsgaben, in Kartons oder in
Packpapier gewickelt, aufbewahrten! Es fehlte nicht an Kühnheit,
diese Pakete aufzuschnüren, obwohl man manchmal schon von ihrer Form
auf den Inhalt schließen konnte. Letztendlich ließ ich sie
unangerührt. Der Wunschzettel hatte sein Schuldigkeit getan. Ich
schlief ruhiger und war doch seltsam erregt. Die Grenze zwischen
Ahnen und Wissen nicht überschritten zu haben, steigerte die Lust
ins Unermeßliche. Später habe ich diese Erfahrung ignoriert und
mich von den Gewißheiten enttäuschen lassen. Ein Kuß der nach
Kaugummi oder Zigarettenrauch schmeckt, entzaubert die reine Idee
eines Kusses. Wieder Jahrzehnte danach gaukelt einem die Erinnerung
vor, die nach Kaugummi oder Zigarettenrauch schmeckenden Küsse seien
köstlicher gewesen als alle, die dann folgten.</span></div>
<br />
<br />
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<span style="font-size: large;">*</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Das
Heimliche – so steht es in den Märchen der Gebrüder Grimm – muß
das <i>Un</i>heimliche einschließen, sonst wirkt es fade. Der Vorrat
an Schrecklichem ist in den Grimmschen Märchen so groß, daß er
fürs ganze Leben reicht. Nur um Haaresbreite verfehlt es die Kinder,
die sich im Wald verlaufen haben. Obwohl man den glimpflichen Ausgang
bereits kennt, staunt man, daß sie beim erneuten Hören oder Lesen
wieder ungeschoren davonkommen. Das lateinische <i>stupor </i>läßt
sich mit <i>Erstarren</i> oder <i>Staunen</i>, gar mit <i>Stumpfsinn</i>
übersetzen. Starr vor Staunen wäre ich am Heiligabend gern gewesen,
stattdessen bemerkte ich zuerst die Fehler der Versuchsanordnung. Der
Plüschbär hatte die falsche Farbe, er schielte. Die Bücher
entsprachen meinen Interessen von vor einem halben Jahr. Die
Gummi-Indianer paßten in Größe und Bemalung nicht zu meiner
restlichen Sammlung usw. usw. Auch der Gabentisch, so meine frühe
Einsicht, bot nur Gewißheiten. Das Staunen des Kindes war
vorgetäuscht.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Unheimliches
wurde mit Schweigen bedacht oder bagatellisiert, unter den Teppich
gekehrt oder, wenn es erzieherischen Maßnahmen dienlich war, als
Drohung im Raum stehen gelassen. Es gab Unheimliches, das an einem
selbst stattfand. Falls das Unaussprechliche entdeckt wurde, drohte
dem Kind galoppierende Verblödung. Die Phantasie malte sich das in
Höllenfarben aus. Ich hatte ja schon Kinder mit Wasserkopf und
Tobsüchtige gesehen. Dank meinen Großeltern väterlicherseits hatte
ich genaue Vorstellungen von einer Irrenanstalt. (Damals scherte sich
noch keiner um politisch korrekte Bezeichnungen.) Meine Großeltern
waren keine Insassen, sie arbeiteten dort, und ich verbrachte einen
Teil meiner Ferien bei ihnen. Die Anstalt glich einem Dorf, nur daß
die Mehrzahl der Fenster vergittert war. Hier wäre ich aus dem
Staunen nicht mehr herausgekommen, hätte mich nicht die permanente
Angst begleitet, einmal hinter diesen Gitterfenstern zu landen. Dort
herrschte <i>stupor</i> bestenfalls als Stumpfsinn. Anders als in den
Märchen kam hier keiner heil wieder heraus. Ich habe davon
ausführlich im Roman „Der Schnakenhascher“ erzählt.</span></div>
<br />
<br />
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<span style="font-size: large;">*</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Das
Staunen ist ein Geschenk, genauso wie der Glaube an Wunder. Zu beidem
muß man sich die Überzeugung, daß es nicht erklärbare
Erscheinungen gibt, bewahren. Unserer Generation wurde diese
Überzeugung schon mit dem ersten Schultag ausgetrieben. Ursache und
Wirkung, Anstrengung und Erfolg – diese Paare bildeten die
Konstanten, gegen die das dunkle Geheimnis keine Chance haben sollte.
Hell waren die Räume und hell die Stimmen, die zukunftsfroh der
Sonne entgegensangen. Die Sonne, hieß es, sei ein Stern unter
Sternen. Die aufgehende Sonne war mehr als das, sie war ein Sinnbild,
und Sinnbilder gehörten wieder in eine andere Sphäre. Den Symbolen
des Aufbruchs wäre ich bedenkenlos gefolgt, hätte man sie in ein
weniger nüchternes Gewand gekleidet. Dem Sozialismus, wie er uns
nahegebracht wurde, fehlte aber der magische Glanz. Das Dogma von der
Gesetzmäßigkeit aller Entwicklung hin zu einer klassenlosen
Gesellschaft stutzte der Phantasie die Flügel. Unsere Lehrer
schienen den Botschaften, die sie zu verkünden hatten, ebenfalls zu
mißtrauen. Zu oft wechselten die Zutaten, so daß sie selbst nicht
mehr hinterherkamen.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Aus
<i>heimlich</i> wurde <i>klammheimlich</i>. Wer etwas klammheimlich
tut, trägt schon vorher Bedenken wegen der Rechtmäßigkeit seines
Tuns. Die Verbote und Tabus wuchsen in dem Maße, in dem die Welt
ihre Entzauberung erfuhr. Der götterlose Himmel war zum Laboratorium
für piepsende und silberfischige Wesen degradiert worden. Haben wir
darüber gestaunt? Ich glaube nicht. Vielmehr sollte die Eroberung
des Kosmos unseren Forscherdrang wecken. Das Unerklärliche wurde auf
ferne Planeten ausgelagert. Sah man genauer hin, wiederholte sich
dort nur das, was sich auf der Erde vor Millionen oder Milliarden von
Jahren abgespielt hatte. Über intelligente Fliegen oder
fortpflanzungsfähigen Schleim konnte man sowenig staunen wie über
Dinosaurier oder Kopffüßer. Eher schon über das Rätsel, warum von
den vier Bartträgern, die jeweils ein ganzseitiges Foto im
einbändigen Lexikon bekommen hatten, der Schnauzbärtige nicht mehr
erwähnt werden durfte. Ich war froh, daß es nicht einen der beiden
mit den schönen Vollbärten betraf. In einer ziemlich bartarmen Zeit
aufwachsend, hielt ich einen Vollbart für die Verkörperung
absoluter Weisheit. Ob es sich dabei um die Sehnsucht nach einem
Übervater handelte, weiß der Himmel.</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<span style="font-size: large;">*</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Heimlich
besuchte ich einen weißbärtigen Kunstmaler, der im Haus meines
Zahnarztes unterm Dach sein Atelier hatte. Niemand hatte es mir
verboten, dorthin zu gehen, weil ich die Besuche für mich behielt.
Mein Instinkt sagte mir aber, daß es meinen Eltern nicht recht sein
würde, also brachte ich sie gar nicht erst in Verlegenheit. Hier
durfte ich ungestört staunen und den Glauben an die Gestaltwerdung
einer Idee verwirklicht sehen. Vorwiegend waren es Christusköpfe,
fein mit Bleistift oder Rötel aufs Papier gezeichnet, und natürlich
erkannte ich die beiden Mosaiken überm Portal der
Paul-Gerhardt-Kirche darin wieder. Das Betreten der Kirche war mir
untersagt. Ich rächte mich, indem ich Mosaiksteinchen aus den
Evangelisten an den Seitenkappellen herausschlug.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Klammheimlich
schlich ich mich doch einmal am Ende eines Gottesdienstes in die
Kirche. Der Reiz des Verbotenen mischte sich mit der Erwartung von
etwas Unanständigem. Warum sonst wollten meine Eltern nicht mit mir
hineingehen? Stattdessen umgab mich der Geruch alter Frauen und
feuchter Mäntel. Die Kälte des Raumes war mir unangenehm, auch fand
ich in der schlichten Einrichtung wenig von dem wieder, was ich mir
erhofft hatte. <i>Unanständig</i> war höchstens die fast nackte
Gestalt, die mit Händen und Füßen an ein hölzernes Kreuz genagelt
war. Ich hatte zwar schon Abbildungen der Kreuzigung gesehen, wußte
auch, daß es sich um Jesus handelte, aber gehörte der nicht zu
einem finsteren, längst vergangenen Zeitalter? Der aus Holz
geschnitzte Körper wirkte hingegen so lebensecht, daß ich meinte,
die Nägel durchbohrten meine Hände und Füße. (Es war wohl eine
abgeschwächte Form von Wundmalschmerz, wie er bei besonders frommen
Menschen manchmal auftritt, bis hin zu den als Wunder geltenden
sichtbaren Stigmata.) Ich spürte, wie er der Schmerz auch von meinen
Armen Besitz ergreifen wollte. Die Schwere des Körpers zerrte an den
Armen, so daß die Schultergelenke aus ihren Pfannen gedreht wurden
und man das Zerreißen der Sehnen jeden Moment erwartete. Tiefe
Hoffnungslosigkeit ging von dem Gekreuzigten aus. Die Erschütterung
war enorm. Als atheistisch erzogenes Kind hatte ich ja keine Ahnung
von der Auferstehung und sah nur die reine Qual, die ein süßes und
wollüstiges Mitleid erregte.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Von
den Christus-Porträts im Künstleratelier war mir das leidende
lieber als das triumphierende. Da der gemarterte Körper fehlte,
strahlten die Gesichtszüge lediglich etwas Entrücktes,
Vergeistigtes aus. Der Maler hatte den Schmerzenskopf mit der
Dornenkrone auf eine Staffelei gepinnt, als ob er noch daran
arbeitete. Tatsächlich stand es im immer halbfertigen – für mich
vollendeten – Zustand an der gleichen Stelle neben der Tür. Für
seinen Broterwerb kopierte der Meister nach Paßbildern. Seine
Kundschaft waren ältere Damen, die Familienangehörige porträtieren
ließen, ihre Ehemänner, die im Krieg gefallen waren, oder die
Enkelkinder, deren Anmut so rasch verflog. Wie bewunderte ich die
fleckige Hand, die mit wenigen Linien die Umrisse maßstabgerecht
aufs Papier zeichnete, um dann durch Stricheln, Schraffieren und
Verreiben der Pigmente zu Schatten das Original an Perfektion zu
überbieten. Wir haben kaum ein Wort miteinander gewechselt. Es war
die Ehrfurcht vor dem Handwerk, die mich stumm machte, und auch der
Maler respektierte meine Ergriffenheit. Er wußte noch, daß man
einem Kind nichts erklären muß, wenn man es ernst nimmt.</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<span style="font-size: large;">*</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Menschen,
die das Staunen noch nicht verlernt haben, erregen oft Anstoß. Das
verbindet zum Beispiel Kinder und Künstler. Wie man Kindern das
Staunen austreibt, habe ich bereits angedeutet. Bei Künstlern ist
die Sache komplizierter. Ihre Einmischung wird nur dort gern gesehen,
wo sie kontrollierbar ist, auf Bühnen und in Konzertsälen, in
Galerien und Museen, auf der Kinoleinwand oder in Büchern. Der
Schaden bleibt begrenzt, sozusagen innerhalb der Gemeinde. Weil das
Staunen in der <i>un</i>heimlichen Welt nicht vorgesehen ist,
vermutet man dahinter nicht selten Blödheit. Die privilegierten
Blöden, denen ein gewisser Sonderstatus zugebilligt wird,
vorausgesetzt, sie halten sich an die Spielregeln, dürfen in vielen
Gewändern modernen Narrentums auftreten. Sie, die doch eigentlich
das Staunen in die Welt tragen müßten, werden ihrerseits bestaunt
wie Affen im Käfig. Der Sensationshunger jenseits des Käfigs wächst
ununterbrochen, da sich der Schauwert des scheinbar Anstößigen
immer schneller abnützt. Das Publikum merkt zu rasch, daß die
Provokation nur vorgetäuscht, der Skandal als zusätzlicher
Werbeeffekt einkalkuliert war. So verwischen sich die Bedingungen,
unter denen Kunst produziert und konsumiert wird.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Der
staunende Künstler, der sich den Spielregeln nicht unterwirft, gilt
hingegen als naiv, wobei die Grenzen zu dem, was man als stumpfsinnig
ansieht, fließend sind. Auch er wird, sofern man ihn nicht im Getöse
des Betriebs völlig übersieht, bestaunt. Aber nicht für sein Werk,
sondern dafür, daß er aus seiner Blödheit kein Kapital schlägt.
Es wird nicht an Ratgebern fehlen, die den Naiven auf sein Manko
hinweisen, und falls er nicht unerschütterlich an sich glaubt, wird
er schon in der nächsten Saison mit seiner Naivität kokettieren.
Nun kann man ihn endlich eingemeinden. Sein Stupor, das Erstarren vor
dem Unfaßbaren, dem er sein Stammeln und Stottern verdankt, seine
hingerotzte Wut, wird endlich der Verwertung zugeführt.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Vielleicht
liegt es an diesem reibungslosen Automatismus, daß Kunstskandale so
oft einen fatalen Beigeschmack haben. Die protestierenden
Tierschützer im Vorfeld eines Theaterspektakels, bei dem Tiere
geschlachtet werden, oder das buhende Publikum im Saal sind Teil der
Inszenierung. Die Empörten spielen ihren Part so perfekt, als ob sie
ihre Rolle von einer eingeblendeten Texttafel ablesen. Verleger und
Filmproduzenten werben schon vor Erscheinen ihrer Mega-Produkte mit
den darin vorkommenden Tabuverletzungen. Der Käfig mit den
onanierenden Affen lockt immer genügend Schaulustige an. Schaulust
ist der Ersatz für das aus unserer Welt verbannte Staunen. Und statt
das Geheimnis, das allem Schöpferischen vorausgeht, zu bewahren,
verlangt der Markt seine vollständige Enthüllung. Ohne sie bleibt
das Kunstwerk suspekt, ja es stört den Betrieb geradezu, da es
offenbar gar nichts Obszönes oder wenigstens Neurotisches
vorzuweisen hat.</span></div>
<br />
<br />
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<span style="font-size: large;">*</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Staunen
und Hunger nach Sensationen sind ein ungleiches Paar. Beim Staunen
kommt das Überraschende einer Situation oder einer Erscheinung
hinzu, die Reaktion ist allerdings mehr nach innen gerichtet. Daher
auch der leicht verwirrte Eindruck, den der Staunende auf andere
macht. Für einen kurzen Moment gibt sich der Staunende eine Blöße,
wird lächerlich, wird angreifbar. Zugleich sprechen wir von einem
Zustand, den wir mit uns selbst abmachen müssen, auch dann, wenn wir
Teil einer staunenden Menge sind, etwa bei einem Zirkusbesuch oder in
einer Zaubershow. Die Zirkusmanege oder das Varieté, in dem ein
Zauberkünstler auftritt, sind gewissermaßen Grenzorte, in denen
sich Sensationslust und Staunen begegnen. Der Staunende kann sich in
der Masse verbergen, auch wenn sie weniger ergriffen ist als er und
nur vom Nervenkitzel angelockt wurde. Der erste Zirkusbesuch eines
Kindes gewährt noch das pure Gefühl, etwas Wunderbarem beizuwohnen.
Schon beim nächsten Mal achtet das Kind mehr auf die technischen
Details, läßt sich nicht mehr für „dumm“ verkaufen. Ich habe
solche Enttäuschungen erlebt. Das Wissen um die Tricks, auch wenn
man sie nicht durchschaute, schmälerte den Genuß, es brachte einen
dazu, altklug und abgeklärt zu reden; man wollte ja nicht mit den
Kleinen, die offenen Mundes auf dem Schoß oder den Schultern ihrer
Eltern saßen, in einen Topf geworfen werden. Noch später wird man
sagen, daß ein aufgespanntes Netz unter der Hochseiltruppe deren
Können herabsetze, weil es nicht um Leben und Tod gehe. Der
Sensationssüchtige hat über den Staunenden gesiegt.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Hat
einer meiner Altersgenossen, damals waren wir dreizehnjährig, über
den ersten Schritt eines Menschen auf dem Mond gestaunt? Meine
Erinnerung an den Tag ist ausgelöscht. Zu viele Bilder bekam ich
erst mit Verspätung zu Gesicht, so daß ich nicht einmal weiß, ob
ich vor dem Fernseher saß. Man muß hinzufügen, daß meine Eltern
1969 noch kein Westfernsehen empfingen. Brachten die Nachrichten der
„Aktuellen Kamera“ überhaupt die Liveaufnahmen von der
Mondlandung?</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Tatsache
ist, daß ich nicht den geringsten Zweifel am Gelingen der
amerikanischen Mondmission hegte, trotz vorausgegangener Pannen und
des bis dahin unangefochtenen Vorsprungs der Sowjetunion im Weltraum.
Der Glaube an die Perfektion der Technik hatte nur ein paar Kratzer
abbekommen, und die saloppe Art, mit der die Amerikaner die Sache
angingen, zerstreute die Zweifel. Hier der Heldenkult um die
Kosmonauten als Sendboten des Kommunismus, dort Armstrongs Formel vom
„Job, der zu schaffen ist“. Diese Lässigkeit hatte was von einem
Westernhelden. Sie imponierte mir. Heimlich wurde ein Bildband über
die Mondlandung – er stammte aus einem westdeutschen Verlag –
weitergereicht, während die offizielle Propaganda nicht müde wurde,
uns für das sowjetische Mondspielzeug Lunochod zu begeistern. Das
kam zwar erst ein Jahr später zum Einsatz, aber auch das bunt
bebilderte Buch hatte seine Zeit gebraucht, bis es ein furchtloser
Besucher durch die Grenzkontrolle zu schmuggeln wagte. Die
Heimlichkeit der Lektüre machte erst den Reiz aus. Andernfalls hätte
mich das Thema nicht so lange gefesselt. Schließlich fehlte es den
realen Weltraumabenteuern an allem, was sie erst richtig aufregend
gemacht hätte: außerirdische Intelligenz, Wurmlöcher,
Zeitschleifen, Antimaterie etc. Die Steinwüste auf den Mondfotos war
nicht annähernd so eindrucksvoll wie der Anblick des wechselhaften
Trabanten von der Erde aus.</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<span style="font-size: large;">*</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Seitdem,
seit den Pioniertagen der Raumfahrt, hat sich unser Weltbild ständig
dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung anpassen müssen.
Eigentlich dürfte man aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Das
Gegenteil ist der Fall. Gewöhnt daran, die Welt nicht mehr zu
begreifen, nimmt man die Entdeckung ferner Galaxien, fast so alt wie
das Universum selbst, und immer winzigerer Elementarteilchen oder die
gentechnischen Möglichkeiten zum Klonen der eigenen Spezies eher
beiläufig zur Kenntnis. Wie die technischen Geräte, vor deren
Innenleben jeder Laie kapituliert, bleiben auch die Modelle des
Mikro- und Makrokosmos ohne Spezialkenntnisse ein Buch mit sieben
Siegeln. Universelles Wissen – das Ideal der Aufklärung – ist im
Zeitalter der größtmöglichen Verfügbarkeit von Informationen
unerreichbarer geworden als je zuvor. Kein Wunder, daß Kontroversen
eher auf Nebenschauplätzen ausgetragen werden. Darf ein
Weihnachtsmarkt noch Weihnachtsmarkt genannt werden, ist die
Bezeichnung Frau Professor diskriminierend etc.? Das Nahen eines
Kometen lenkt für einen Moment die Aufmerksamkeit von Kopftuchstreit
oder Gender-Diskussionen ab. Ist er vorbeigeschrammt, geht man wieder
zur Tagesordnung über. </span>
</div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Weltuntergänge
sind nie zuvor so exakt und medienwirksam vorhergesagt worden. Als im
Dezember 2012 wieder mal so ein ultimatives Datum bevorstand, hat
wohl kaum jemand ernsthaft von der Planung einer Silvesterparty
Abstand genommen. Und wer schon wird sich über die Folgen der
Erderwärmung den Kopf zerbrechen, wenn er bei -10° C den Schnee
vorm Gartentor räumen muß! Auch Klimamodelle kann der Laie nicht
mehr mit seinem Schulwissen beurteilen. Die Aufklärung versagt, wenn
sie zur Glaubensfrage mutiert, und erst recht, wenn ihre Aussagen
bedeuten, auf liebgewordene Gewohnheiten zu verzichten.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Enthüllungen,
das große Geschäft mit der Gier nach dem Splitter im Auge des
anderen, werden häufig eingeleitet mit dem Satz: Er/ sie/ die
Hausbewohner/ die ganze Stadt/ der Staat oder die gesamte
Öffentlichkeit schlechthin waren geschockt. Oder besser noch, sie
standen unter Schock. Was am 11. September 2001 für die westliche
Welt noch Ausdruck ehrlich empfundener Betroffenheit war, wird
angesichts der inflationären Schockstarre, die bei jedem Anlaß über
ganze Bevölkerungsgruppen hereinbricht, zur Farce. </span>
</div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<span style="font-size: large;">*</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Weil
das Unheimliche längst zur Alltagskultur gehört, ob im
Frühstücksfernsehen oder in der vom Dauerregen zerweichten Zeitung,
möchte man seine private Klimakatastrophe möglichst vielen Menschen
mitteilen. Im Mittelalter diente der Pranger zur Bloßstellung des
Einzelnen gegenüber der konformen Masse, mittlerweile wird das vom
Einzelnen selbst in den sogenannten <i>sozialen</i> Netzwerken
übernommen. Der Begriff <i>sozial</i> hat allerdings in den letzten
20 Jahren nicht nur einen Bedeutungswandel erfahren, vielmehr ist er
zur Beliebigkeitsfloskel verkommen, die man vor allem dann
voranstellt, wenn unsoziale Gepflogenheiten oder Tatsachen
verschleiert werden sollen: der Sozialstaat, die sozial Schwachen,
soziale Randgruppen, sozialverträgliches Frühableben, sozial
abgefederte Sparmaßnahmen etc.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Wer
nicht mehr staunen kann, darf sich zumindest noch wundern. Dazu
liefert auch die seriöse Wissenschaft reichlich Material. Daß die
Erde verbeult durchs Weltall schlingert, daß wir unsere Existenz nur
einem winzigen Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie
verdanken und daß Myriaden noch unentdeckter, bizarrer Lebewesen in
den Tiefseegräben ihrer Namensgebung entgegen fiebern, sind solche
Häppchen, mit denen wir das mit Wundern knausernde Tagespensum
leichter ertragen. </span>
</div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Ein
Nebeneffekt der entzauberten, <i>un</i>heimlichen Welt ist die
steigende Sehnsucht nach Schicksalsweisern. Ernst Jünger hat diesen
Trend bereits für das 20. Jahrhundert diagnostiziert („An der
Zeitmauer“, 1959). Täglich lesen Millionen von Menschen weltweit
ihr Horoskop, ganz gleich, wie widersprüchlich die für denselben
Tag gegebenen Ratschläge in verschiedenen Zeitungen ausfallen. Das
offensichtliche Nichteintreffen astrologischer Prophezeiungen hindert
viele nicht daran, aus einer noch so vagen Vorhersage oder Empfehlung
ein Körnchen Wahrheit für sich zu beanspruchen. Daß nicht
konfessionell gebundene Menschen empfänglicher für Astrologie und
andere Vorzeichen sind als die, die einer Glaubensgemeinschaft
angehören, dürfte niemanden wirklich erstaunen. Hartgesottene
Gottesleugner wird man vergebens dazu bewegen können, an einem
Freitag, dem 13., wichtige Entscheidungen zu treffen. Sie wechseln
diskret die Straßenseite, wenn eine schwarze Katze ihren Weg quert,
klopfen auf Holz oder machen heimlich drei Kreuze. So gleicht sich
der Mangel an Glauben durch Aberglauben aus, was keine Herabsetzung
sein soll, vielmehr beweist es die Tatsache, daß der Mensch auch im
Computerzeitalter und trotz anstehender Marsbesiedelung nicht
aufhören kann, nach göttlichen oder wenigstens übersinnlichen
Vorzeichen zu suchen. Hierher gehört übrigens auch die
Wissenschaftsgläubigkeit, wo sie zum Untermauern eigener
Befindlichkeiten oder zur Durchsetzung ganz egoistischer Interessen
dient. Expertenmeinungen, die den eigenen Standpunkt bestätigen,
bekommt man so wohlfeil wie Heilsbotschaften.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"> Heimlichkeit
und Staunen behaupten also weiter ihren Platz im Leben vieler
Zeitgenossen. Ist ihre Verteidigung gegen die allseits befürchtete
Abschaffung der Privatsphäre und gegen die elektronischen
Taktvorgaben im Tagesablauf womöglich überflüssig? Empfinden wir
es als Verlust, wenn der Schauer des Einmaligen und des nicht
Mitteilbaren immer öfter ausbleibt? Noch haben wir es vielfach
selbst in der Hand, wo und wem wir unsere ideellen oder realen
Fingerabdrücke hinterlassen, um zur Gemeinschaft der <i>Un</i>heimlichen
dazuzugehören. Es wird aber nicht ausbleiben, daß die
Rückzugsgebiete spärlicher werden, und vor allem werden sie härter
umkämpft sein.</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<span style="font-size: large;">*</span></div>
<div align="CENTER" style="widows: 4;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Es
sind die Gratwanderungen, die ermüden. Zwischen Vergessen und
Erinnern schlängelt sich der Pfad vom fern Versunkenen ins fern
Vernebelte. Zurückschauen erhöht die Gefahr zu stolpern, bedeutet,
das Tempo zu vermindern. In einer Zeit, die der Beschleunigung
huldigt, auch wenn es an Mahnungen nicht fehlt, ist jedes Innehalten
ein Störfaktor. Ohne die Pausen, in denen ich Erinnerungen nachhänge
und sie mit dem, was mich am Tage beschäftigt hat, in Beziehung
setze, käme ich mir aber fremdbestimmt und ferngesteuert vor, wie
jenes Mondmobil, das alle Aufgaben präzise erfüllt hat, doch nie
die Schönheit der aufgehenden Erde empfand. Ich habe keine Ahnung,
wieviel an eigenen Erlebnissen unwiederbringlich verloren ist.
Heimlich haben sie sich davon gestohlen. Dann wieder überrascht mich
eine Begebenheit, von der ich nicht vermutete, daß sie noch abrufbar
war. Und weil sie nirgendwo sonst als in meinem Kopf aufbewahrt wird,
ist sie sicher vor der Sammelwut anonymer Späher und ihren
unersättlichen Datendepots. Niemand kann wissen, wie lang die zu
noch bewältigende Wegstrecke sein wird, und ob ihn unterwegs einmal
die Sehnsucht nach dem Unbekannten so heftig packt, daß er alles
Vertraute hinter sich läßt und einen Sprung wagt, ohne den Ort des
Auftreffens zu kennen. Nur, daß das Ende der Wanderung ein letztes
großes Staunen bereithält, dessen bin ich mir sicher. </span>
</div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<br />Anonymoushttp://www.blogger.com/profile/08823607379653018927noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2580937077636197173.post-59415441867699048442013-12-29T11:38:00.002-08:002013-12-29T11:57:13.596-08:00Das Feuer machte ihm keiner Nach<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><i>Von
Martin Holz</i></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br />
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">'Das
Feuer machte ihm keiner nach' (1) und ich will sehen woher der Rauch
kommt über Leipzig - der ehemaligen Kohlestadt. Irgendwo muss er
sein, der 'alte Schnakenhascher' (2) und ich folge dem Ruß auf den
Wegen dorthin. Hinter einer Landschaft mit ausgeweideten Fabriken und
Bahngleisen bündeln sich die dunklen Luftschichten und brechen
zusammen in einem Knäuel großmäuliger Plattenbauten: Stadtteil
Grünau. Irgendwo dazwischen lese ich Rauchzeichen und ich brauche
ihrer Geheimsprache nur zu folgen - in eine Straße mit
Zwergenhäusern und dort muss es sein. Das Klingelschild trotzt den
fiesen Jahrzehnten, der Rost wäscht die Namen nicht vom Blech:
Böhme. </span><br />
<a name='more'></a></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjLsvDWHzhj2gPlaGVvh_RzqO81Fz99Kf7Cm5Xp8Pa6DAF1t8qLBC8ZDXDRijOZplEI4dqXWzWSEjO4jmNsMtOcl54HKrGZe0m0nvcUPb3Vzwv5HYBJVnpLJrDcZSPe1BJM-RmFfdLba_2F/s1600/feur_web2.jpg" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjLsvDWHzhj2gPlaGVvh_RzqO81Fz99Kf7Cm5Xp8Pa6DAF1t8qLBC8ZDXDRijOZplEI4dqXWzWSEjO4jmNsMtOcl54HKrGZe0m0nvcUPb3Vzwv5HYBJVnpLJrDcZSPe1BJM-RmFfdLba_2F/s640/feur_web2.jpg" width="448" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">'das feuer machte ihm keiner nach' (Martin Holz, aus: '<a href="http://www.gosteditor.de/main/collection/ersatz3/ger_ersatz3_02.html" target="_blank">ersatzteilversuch 3</a>')</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<span style="font-size: large;">Wie
ich das Ende der Hühnerleiter erreiche, die zum Dachboden, dem
Arbeitszimmer, führt umzingeln mich Fotografien <span style="font-weight: normal;">wie</span>
lebendige Fossilien: alle reden ihre Geschichten in verschiedenen
Sprachen, sie quengeln und nörgeln, denken aber nicht daran ihre
Worte zu übersetzen. Thomas Böhmes Texte tun das oder man glaubt,
dass sie das tun, für einen Moment jedenfalls, den, bevor das
Schweben einsetzt oder eine Art erotischer Schwerkraft. Sie wickelt
sich wie die Wiesen der Kindheit um die Füße und das Rascheln der
Gräser dabei - es erzählt einen 'latenten Roman' (3). Es kritzelt
'Flüchtigkeitsprotokolle' (4), 'die sich der leimgewordenen
Wirklichkeit entziehen'(5). Der Duft der Worte droht dabei manchmal
die Zirkulation der Texte wie ein Stromnetz zu überlasten und so
läuft die Sprache Gefahr sich selbst zu überfrachten. Mit dem gut
gehüteten Blick der Kindheit kann man dieser Sinnlichkeit jedoch
folgen und die geheimen Schlupfwinkel aufspüren. In manchen
Gedichten werden diese Verstecke durchschnitten, aus der eben noch
erotischen Schwerkraft wächst ein bedrohliches, aber dennoch
anziehendes Du, das die Panzerung abschält im 'Duft deiner schweren
Waffen' (6). Magst du ein, zwei Texte hören, fragt er, zündet sich
eine Pfeife an und ich habe geglaubt ihm bereits zu zuhören.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Während
ich ihm folge, verirre ich mich, ähnlich wie die Figuren Bell und
Alker aus 'Dämmerung mit Dingen' (7), deren Bewegungen sich im
Verlaufen erschöpften (8). Während diese Figuren als 'kulinarische
Kategorien versagt [...] haben' (9) laufe ich das eigene Verirren wie
eine kreisrunde Route immer wieder ab. Es setzt ein, wenn man nicht
bereit ist den Text zu verlassen, denke ich, man steigt in die Haut
der Figuren und sie werden das Schneckenhaus der eigenen Handlung.
Dieser Gefahr zu verfallen ist leicht, wenn man sein Buch 'Vom
Fleisch verwilderte Flecken' (10) gelesen hat, denn es kann sein,
dass man dort nicht mehr herauskommt. Welchen Text er an diesem Abend
auch liest, er buchstabiert die Buchstaben dieses Buches, das so
anfängt, wie es aufhört und das so aufhört, wie es anfängt.
Dieses Knäuel tut sich in Böhmes Arbeiten immer wieder auf: eine in
Schleifen verknotete Handlung entwirft ein Spinnennetz, in das man
hineingeht wie in einen Tunnel. Er endet mit dem Schweigen, dass
eimerweise verschüttet wird, wenn die letzte Zeile gesprochen wurde.
Ein umgekehrter Brunnen: wenn man nicht aufpasst bleibt man zurück
auf der anderen Seite und sucht die Spindel im Schatten der
Buchstaben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich heraus
geschafft habe, als ich die Straße betrat, angestarrt von
Zwergenhäusern mit dem Geruch von Ruß in den Ohren.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><b>Anmerkungen</b></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Zuerst
erschienen auf <a href="http://www.conquering-places.de/">conquering-places.de</a></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Beitragsbild
im ursprünglichen Artikel: Nancy Martin</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Grafik
'das feuer machte ihm keiner nach': Martin Holz, aus
'<a href="http://www.blogger.com/%27das%20feuer%20machte%20ihm%20keiner%20nach%27%20(Martin%20Holz,%20aus:%20%27ersatzteilversuch%203%27)" target="_blank">ersatzteilversuch 3</a>'</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">1
Zit. nach <i>'Das Feuer machte ihm keiner nach' </i>aus <i>'Heimkehr
der Schwimmer'</i> (Druckhaus Galrev 1996)</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">2
Zit. aus <i>'Der Schnackenhascher'</i> (Projekte-Verlag Cornelius
2010)</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">3
Zit. aus<i> 'Vom Fleisch verwilderte Flecken' </i>(Druckhaus Galrev
1995)</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">4
Zit. aus <i>'Vom Fleisch verwilderte Flecken'</i> (Druckhaus Galrev
1995)</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">5
Zit. aus <i>'Vom Fleisch verwilderte Flecken' </i>(Druckhaus Galrev
1995)</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">6
Zit. aus <i>'Der Duft deiner schweren Waffen' </i>aus <i>'Alle Spur
wird Fell'</i> (Druckhaus Galrev 1998)</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">7
<i>'Dämmerung mit Dingen': Roman,</i> Galrev, Berlin 2001</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">8
Ich paraphrasiere den Klapptext zu <i>'Dämmerung mit Dingen'</i>
verfasst von Thomas Kunst.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">9
Ich paraphrasiere den Klapptext zu <i>'Dämmerung mit Dingen'</i>
verfasst von Thomas Kunst.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">10
<i>'Vom Fleisch verwilderte Flecken'</i>: Roman, Galrev, Berlin 1995</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><b>Über
Thomas Böhme</b></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;">1955
in Leipzig geboren, lebt ebenda</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;">1982-84
Fernstudium am Literaturinstitut Leipzig</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Seit
1985 mit Unterbrechungen als freiberuflicher Autor tätig</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;">1988
Georg-Maurer-Preis der Stadt Leipzig</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;">1994
Ehrengabe der Schiller-Stiftung Weimar. </span>
</div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><span style="font-weight: normal;">2006
Literaturförderpreis Sachsen </span></span><span style="color: navy;"><span lang="zxx"><u><a href="http://www.poetenladen.de/news/129.html"><span style="font-size: large;"><span style="font-weight: normal;">(News
129)</span></span></a></u></span></span><span style="font-size: large;"><span style="font-weight: normal;">.
</span></span>
</div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><b>Veröffentlichungen</b></span></div>
<span style="font-size: large;"><i>'Mit der Sanduhr am
Gürtel'</i>: Gedichte, Aufbau-Verlag, Berlin; Weimar 1983 </span>
<br />
<span style="font-size: large;"><i>'Die schamlose Vergeudung
des Dunkels'</i>: Gedichte, Aufbau-Verlag, Berlin; Weimar 1985 </span>
<br />
<span style="font-size: large;"><i>'Stoff der Piloten'</i>:
Gedichte, Aufbau-Verlag, Berlin; Weimar 1988</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Einübung der Innenspur'</i>:
Roman, Aufbau-Verlag, Berlin; Weimar 1990</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Ich trinke dein Plasma.
November'</i>: 2 dreizehnzeilige und 100 zwölfzeilige Gedichte,
Aufbau-Verlag, Berlin; Weimar 1991</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Häutungen, häufiger
Herbst'</i>: 22 Gedichte (mit Holzschnitten von Frank Wahle), Edition
m, Leipzig 1991</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Ballett der
Vergesslichkeit'</i>: Gedichte, Connewitzer Verlagsbuchhandlung,
Leipzig 1992</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Manessischer Ikarus'</i>:
sechsundsechzig Gedichte von 1980 bis 1995, ROSPO, Verlag für Lyrik
und Kunst, Hamburg 1995</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Vom Fleisch verwilderte
Flecken'</i>: Roman, Galrev, Berlin 1995</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Heimkehr der Schwimmer'</i>:
Gedichte, Galrev, Berlin 1996</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Im Ort: Mansfelder
Texte'</i>: Dr.-Ziethen-Verlag, Oschersleben 1996</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Die Zöglinge des Herrn
Glasenapp'</i>: Erzählungen, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1996</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Geruch des Gastes'</i>:
Roman, Thomas-Verlag, Leipzig 1996</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Die Körper und das
Licht'</i>: Roman, Die Scheune, Dresden 1998</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Alle Spur wird Fell'</i>:
Geschichten, Prosagedichte, Verse, Galrev, Berlin 1998</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Jungen vor Zweitausend'</i>:
Porträtfotos aus Leipzig und Halle, Fliegenkopf-Verlag, Halle 1998</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Und an Bahnhöfe denken'</i>:
Gedichte, Verlag Un-Art-Ig , Aschersleben 2000</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Die Cola-Trinker'</i>:
Gedichte von 1980-1999, MännerschwarmSkript-Verlag, Hamburg 2000</span><br />
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><i>'Dämmerung
mit Dingen': Roman,</i> Galrev, Berlin 2001</span></div>
<span style="font-size: large;"><i>'Schwarze Archen'</i>:
Geschichten, Fabeln, Grotesken; mit dem Fotozyklus "Jungen
unterwegs", Edition Erata, Leipzig 2003</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Balthus und die Füchse'</i>:
drei obskure Novellen, Eremiten-Presse, Düsseldorf 2004</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Nachklang des Feuers'</i>:
Gedichte, Galrev, Berlin 2005</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Widerstehendes'</i>:
Fotografien und Texte, Edition Erata, Leipzig 2007</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Der Schnakenhascher'</i>:
Roman, Projekte-Verlag Cornelius, Halle 2010</span><br />
<span style="font-size: large;"><i>'Heikles Handwerk'</i>:
Gedichte, Poetenladen, Leipzig 2010</span><br />
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><b>Material</b></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><a href="http://www.erata.de/Film/Interviews/I_Boehme.htm">Interview</a>
von Victor Kalinke mit Thomas Böhme</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><i><span style="font-weight: normal;">'Vom
Fleisch verwilderte Flecken'</span></i><span style="font-weight: normal;">:
Roman, Galrev, Berlin 1995</span></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><i><span style="font-weight: normal;">'Heimkehr
der Schwimmer'</span></i><span style="font-weight: normal;">:
Gedichte, Galrev, Berlin 1996</span></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><i><span style="font-weight: normal;">'Alle
Spur wird Fell'</span></i><span style="font-weight: normal;">:
Geschichten, Prosagedichte, Verse, Galrev, Berlin 1998</span></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><i><span style="font-weight: normal;">'Dämmerung
mit Dingen': Roman,</span></i><span style="font-weight: normal;">
Galrev, Berlin 2001</span></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><i><span style="font-weight: normal;">'Der
Schnakenhascher'</span></i><span style="font-weight: normal;">: Roman,
Projekte-Verlag Cornelius, Halle 2010</span></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><b>Links</b></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Thomas
Böhme im <a href="http://www.poetenladen.de/thomas-boehme.htm">Poetenladen</a></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Thomas
Böhme bei <a href="http://www.galrev.com/material/seiten/boehme.htm">Galrev</a> und auf <a href="http://www.literaturport.de/Thomas.Boehme/">Literaturport</a></span></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="font-weight: normal; widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
Anonymoushttp://www.blogger.com/profile/12112208586426849311noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2580937077636197173.post-22185057819945789502013-11-11T11:41:00.000-08:002013-12-29T11:08:04.668-08:00Bruderbande<span style="font-size: large;"><i>Rezension zu: Jörg
Magenau „Brüder unterm Sternenzelt“ </i></span><br />
<span style="font-size: large;"><i><br /></i></span>
<br />
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Seit
dem Tod Ernst Jüngers sind bereits 15 Jahre vergangen. Und noch
immer taugen seine Person und sein disparates Schaffen für
Kontroversen. Titel wie „Der Kampf als inneres Erlebnis“ (1922)
oder „Die totale Mobilmachung“ (1931) sind auch für Bewunderer
seiner reifen Prosa mit dieser nur schwer in Einklang zu bringen.</span><br />
<a name='more'></a><span style="font-size: large;">
Ganzheitliches Denken, Fragen nach den Perspektiven des Universums
und welche Rolle der Mensch darin spielt, prägen vor allem sein
Spätwerk. Vieles davon nimmt Diskussionen um Klimawandel und
Globalisierungsfolgen vorweg, und sicher gibt es hier noch manches zu
entdecken, was sich vom momentanen Aktionismus in der Politik
wohltuend abhebt. Dagegen stand das Werk Friedrich Georg Jüngers
immer im Schatten des Autors der „Stahlgewitter“. Es umfasst
Lyrik, Erzählungen, mehrere Romane und kulturgeschichtliche
Abhandlungen. Letztere waren Ergebnis oder Ausgangspunkt eines
lebenslangen Dialogs unter Brüdern, und haben nicht selten Ernst
Jüngers Positionen beeinflusst. Wie stark etwa der Eindruck von
Friedrich Georgs zivilisationskritischen Essay „Die Perfektion der
Technik“ (1949) und seiner anderen theoretischen Schriften auf den
drei Jahre älteren Bruder war, auch davon erzählt Jörg Magenaus
beachtenswerte Doppelbiographie „Brüder unterm Sternenzelt“. Es
ist sein Verdienst, der Gestalt Friedrich Georg Jüngers neben der
des berühmteren Bruders den ihr gebührenden Rang einzuräumen, ihr
Kontur und Stimme zu geben und damit auch Ernst Jünger in einem
gleichsam weicheren Licht zu zeichnen.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Zu Beginn nimmt Magenau seine
Leser mit ins Arbeitszimmer des hundertjährigen Ernst Jünger nach
Wilflingen. „Er wartete nicht auf den Tod. Der Tod war immer schon
da, war ein Bruder, ein guter Freund. Irgendwann würde er ihm die
Hand reichen und hinübertreten auf die andere Seite der Dinge“.
(S.9) Auf dieser <i>anderen Seite</i> befindet sich Friedrich Georg
seit fast zwanzig Jahren. Die Bilder der Toten dienen Ernst zur
Zwiesprache und zur Vergewisserung; sie sind Teil seiner
Sammelleidenschaft geworden wie die „letzten Worte“, wie
Mineralien und Käfer, Sanduhren oder die martialischen Andenken aus
dem Ersten Weltkrieg. Hier schließen sich alle Kreise, hier lagern
die Schichten, Sedimenten gleich, aus denen der greise Dichter seine
Träume empfängt und Erinnerungen schöpft. Und die an den Bruder
sind oft die intensivsten. Schon ein Vogellaut kann sie auslösen.
Denn wie Ernst in die Ordnungen der Insekten eindrang, um den
Welträtseln auf die Spur zu kommen, waren es für Friedrich Georg
die Vögel, denen seine Leidenschaft galt. „So einen Bruder zu
haben ist ein Glück. So ein Bruder ist ein Geschenk. Das Gespräch
mit ihm war der Maßstab für alle anderen Gespräche. Es war eine
Form der Osmose, ein tiefenwirksamer und lebensnotwendiger Austausch
von Substanz.“ (S.12) Das Sterben des Bruders 1977 war denn
auch eine so schmerzhafte Zäsur im Leben des Älteren, dass Magenau
es im Prolog schon vorwegnimmt.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Dieser mit „Luft“
überschriebene Prolog gibt die Methode vor, auf welche Art Jörg
Magenau uns das Jüngersche Biotop erschließen möchte. Nicht die
äußeren Ereignisse und nicht die Zeitachse bilden das Gerüst,
vielmehr die Landschaften und die „vier Elemente“, in denen die
Brüder zu Hause waren. Die sieben Kapitel heißen Moor, Feld,
Städte, Gärten, Höhlen, Wald und See, und sie gliedern sich
(zusammen mit dem Prolog) in 27 Unterkapitel denen jeweils eines der
Elemente Feuer, Wasser, Erde oder Luft vorangestellt ist.
Rückbesinnungen des Hundertjährigen (Wilflingen 1996) werden dabei
immer wieder eingeschoben. So ergibt sich ein vielfach belichtetes
Bild, das die ineinander greifenden Lebensläufe der Brüder nach
ihren bevorzugten Aufenthaltsorten oder Sehnsuchtsräumen ordnet,
ohne das Geflecht der politischen und sozialen Bindungen zu
vernachlässigen. Das hat die Qualität eines biographischen Romans,
es macht die 300 Seiten zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, auch
wenn die Zuordnungen mitunter ein wenig willkürlich anmuten. Ob man
die Jahre 1933 bis 1943 – von den Reaktionen der Brüder auf den
Reichstagsbrand bis zu Ernst Jüngers militärischer Inspektion im
Kaukasus – wirklich unter dem Aspekt „Gärten“ subsumieren
möchte, sei dahingestellt. Vielleicht aber werden so die Brüche
zwischen stilisierter Selbstdarstellung (sowohl bei Ernst als auch
bei Friedrich Georg) und den zusammengetragenen Fakten umso
deutlicher. Wirklich bedauerlich finde ich allerdings das Fehlen
eines Personenregisters, von Bibliographie und Zitaten-nachweis. Das
erschwert nicht nur das Wiederfinden im Text, sondern lässt auch
jeden verzweifeln, der den zahlreichen Funden Magenaus einmal selbst
nachspüren möchte.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Unter den vier Geschwistern
Ernst Jüngers ist Friedrich Georg derjenige, zu dem er sich am
meisten hingezogen fühlt. Schon als Kinder verbringen die Brüder
ihre Zeit am liebsten auf gemeinsamer Pirsch durch Moore und Wälder,
beim Botanisieren und Bestimmen von Pflanzen, beim Beobachten der
Tierwelt rund um das Steinhuder Meer, wo der Vater, ein erfolgreicher
Pharmazeut und Apotheker, ein ansehnliches Grundstück erworben
hatte. Diese Jahre werden ihnen zeitlebens als die paradiesischen
erscheinen, trotz der häufigen Schulverweise von Bruder Ernst und
der strengen Erziehung im Elternhaus. Hier bekommen sie ihre
entscheidenden Prägungen mit – den national-konservativen Geist
der Epoche ebenso wie das positivistische naturwissenschaftliche
Weltbild des Vaters und die musischen Neigungen der Mutter.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Ernst ist derjenige von beiden,
dem diese Welt bald zu eng wird. Als er sich 17jährig bei Nacht und
Nebel davonmacht, um in die französische Fremdenlegion einzutreten
und endlich nach Afrika, dem Kontinent seiner Sehnsucht, zu gelangen,
weiht er Fritz, den Jüngeren, nicht in seine Pläne ein. Fritz
leidet unter der Trennung und dem Vertrauensbruch sehr, doch wird es
ihn später umso mehr drängen, sich dem Älteren als ebenbürtig zu
erweisen. Gelegenheit dafür bietet der Erste Weltkrieg, den Ernst
wie eine Erlösung begrüßt, in dem er von Anfang an in den
Schützengräben Frankreichs kämpft. Fritz meldet sich zwei Jahre
später freiwillig. Während Ernst Jünger als Stoßtruppführer in
vorderster Linie steht und diesen Krieg später zum Gegenstand seines
Eintritts in die Literatur macht, wird Fritz durch einen Lungenschuss
lebensgefährlich verletzt, ohne je selbst einen Schuss abgegeben zu
haben. Einem Zufall nur ist es geschuldet, dass Ernst auf seinen
verletzten Bruder stößt und Maßnahmen zu dessen Abtransport in ein
Lazarett anordnet. Den Brüdern wird dieses Erlebnis zum Wink des
Schicksals, und es schmiedet sie nur noch enger aneinander und
begründet den Mythos von ihrer Unverletzlichkeit. Freilich nagt an
Friedrich Georg auch das Gefühl, versagt zu haben. Nur vor diesem
Hintergrund lässt sich erklären, warum er, der sensible,
öffentlichkeitsscheue und die Einsamkeit Liebende, in den zwanziger
Jahren die militant-nationalistische Publizistik des Bruders an
Schärfe noch in den Schatten stellt. Den verlorenen Krieg, die
Novemberrevolution und den Versailler Vertrag empfinden beide als
Schande für Deutschland, die Weimarer Republik ist ihnen
gleichermaßen verhasst, und die Annäherung an die radikalsten und
militantesten Gruppen im rechten Spektrum dieser Zeit nur
folgerichtig. Berichte von Zeitgenossen, wie Ernst Niekisch oder
Ernst von Salomon, runden das Bild ab. Jörg Magenau beschönigt die
Jahre der Radikalisierung nicht, enthält sich aber weitgehend
nachgeborener Besserwisserei, vielmehr überlässt er es dem Leser,
sich sein Urteil zu bilden. </span>
</div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Ohne sich sklavisch an die
Chronologie zu halten, lässt Magenau die wechselnden Orte und
historischen Ereignisse, an denen die Charaktere der Brüder und
damit ihr umfangreiches Werk sich formen, Revue passieren.
Atmosphärische Dichte erlangen vor allem Passagen, die das Geflecht
an familiären und freundschaftlichen Bindungen inmitten oder auch
jenseits der politischen Grabenkämpfe aufzeigen. Etikettierungen,
wie sie teils durch die öffentliche Wahrnehmung, teils aber auch
durch Selbstinszenierung entstanden sind, werden hinterfragt und
notfalls korrigiert. Weder das Bild des kalten und distanzierten
Beobachters für Ernst, noch das des Stoikers im Elfenbeinturm für
Friedrich Georg Jünger lassen sich aufrecht erhalten, wenn man von
ihrer Teilnahme am aleman-nischen Fasnachtstreiben oder an den
wiederkehrenden Festen des Kirchenjahrs liest, wie überhaupt der
Hang zur Geselligkeit bei beiden einen ebenso hohen Stellenwert
einnimmt wie das Leben nach dem Bauernkalender, nämlich zyklisch,
den Jahreskreis durchschreitend. Ist einer der Brüder mal
nicht mit von der Partie, wird er im nächsten Brief von den
Ereignissen unterrichtet. Zu den Sternstunden brüderlicher Eintracht
gehören die gemeinsamen Reisen – etwa nach Sardinien, lange vor
den ersten Pauschaltouristen und stets mit Tuchfühlung zur
bäuerischen Bevölkerung. Man erfährt, welchen Rückhalt die Brüder
in ihren Familien hatten, welche Rolle die Ehefrauen spielten und was
denen zuweilen auch aufgebürdet wurde. Vor allem Friedrich Georg
hält engen Kontakt zu den Eltern, die seit den zwanziger Jahren im
sächsischen Leisnig wohnen. Nach dem Tod des Vaters, 1943, bleiben
Mutter und der jüngere Bruder Hans in der sowjetischen Zone und
werden damit für Ernst und Fritz unerreichbar. Als Ernst Jüngers
ältester Sohn am Ende des Zweiten Weltkriegs in Italien fällt,
widmet ihm Friedrich Georg eines seiner innigsten Gedichte. Unter den
zahlreichen Gästen, die bei Friedrich Georg am Bodensee oder bei
Ernst in Wilflingen einkehren, sind während der Nazizeit auch
erklärte Gegner des Systems, sogar einige der späteren Verschwörer
vom 20. Juli 1944. Auch der Philosoph Martin Heidegger gehört
zu den engsten Vertrauten.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Über Ernst Jüngers Aversionen
gegen die NSDAP und die Machtergreifung Hitlers ist schon viel
geschrieben worden. Jörg Magenau erweitert die Sicht auf Friedrich
Georgs Gründe für die Ablehnung der Nazidiktatur. Besonders deren
Rassentheorie und der Judenhass, aber auch die Rohheit der Ideen, der
dumpfe Germanenkult sind ihm, dem Liebhaber der griechischen Antike,
zutiefst zuwider. Dass beide Brüder darin nur eine Ausgeburt der
Weimarer Demokratie sehen – diese Ansicht teilen sie mit vielen
Zeitgenossen aus dem rechts-konservativen Lager.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Der
Zweite Weltkrieg trennt die Brüder für die längste Zeit ihres
Lebens. Ernst ist als Hauptmann der Wehrmacht in Paris stationiert,
Friedrich Georg, der aufgrund seiner Kriegsverletzung nicht
eingezogen wird, lebt als Schriftsteller am Bodensee. In der
illusionslosen Beurteilung der Lage sind sie sich weitgehend einig.
Dennoch erleben sie das Kriegsende nicht als Befreiung, sondern als
Niederlage, wobei sie meinen, Besatzerwillkür und den Verlust des
deutschen Ostens gegen die Kriegsverbrechen der Nazis aufrechnen zu
müssen. Und wieder darf man es Magenau, als ehemaliger Redakteur von
„taz“ oder „Freitag“ doch eher links verortet, hoch
anrechnen, dass er den pädagogischen Zeigefinger tunlichst in der
Tasche behält.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Sieht man von dem mehrjährigen
Publikationsverbot für Ernst Jünger nach 1945 ab – er hatte sich
geweigert die Fragebögen zur Entnazifizierung auszufüllen, wie er
es auch ablehnte, sich von seinen frühen Texten zu distanzieren –
erscheint nun in rascher Folge das, was sich bei beiden Brüdern an
Material in den Kriegsjahren angesammelt hatte und was in den
Nachkriegsjahren hinzukommt. Eine reiche Ernte, die sowohl Wandlung
als auch Kontinuität bezeugt. Erwähnt seien hier nur Ernst Jüngers
richtungweisende Essays „Der Waldgang“ und „An der Zeitmauer“
und von Friedrich Georg neben „Perfektion der Technik“ der Roman
„Zwei Schwestern“, Gedichtsammlungen und drei Bände mit
Novellen. Und während sich Friedrich Georgs Werk in den sechziger
und siebziger Jahren fern aller modischen Attitüden vollendet
und zu unrecht wenig Beachtung findet – mit Sicherheit sind da noch
Schätze zu heben –, so beginnt für Ernst Jünger erst die aus
meiner Sicht wesentlichste Phase seines Schaffens, die mit dem
Kindheitsroman „Die Zwille“ und den bis übers hundertste
Lebensjahr fortgeschriebenen Tagebüchern „Siebzig verweht“
einsetzt. „Wald“ und „See“ beschließen bei Jörg Magenau den
Reigen der symbolischen Orte als Kraftzentren, aus denen die Brüder
ihre Energie schöpfen. Dasselbe gilt für die „vier Elemente“.
Das letzte Unterkapitel führt noch einmal nach „Wilflingen 1996“.
Es gebührt dem Element „Erde“ – die Stimmen der Toten rufen
von dort. „So würde alles wiederkehren, würde sich wandeln und
ewig gewesen sein. (…) Die Welt die er kannte, würde zugrunde
gehen und neu erstehen. Auch die Götter würden zurückkommen, so
wie der Halleysche Komet. Bis dahin würde es noch eine Weile dauern.
Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende. Aber was sind schon
Jahrtausende. Letzthinnig, dachte er mit einem Wort von Schelling,
letzhinnig bin ich Optimist.“ (S.312)</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br />
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;"><i>Jörg
Magenau:„Brüder unterm Sternenzelt“ 315 S., Klett-Cotta 2012.
22,95€</i></span></div>
<br />
<br />Anonymoushttp://www.blogger.com/profile/08823607379653018927noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2580937077636197173.post-39851742929978787902013-11-07T07:16:00.001-08:002013-12-29T11:33:08.101-08:00Streuobstwiesen<!--[if !mso]>
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<span style="font-size: large;">Vom Finden, Sammeln,
Aufbewahren</span><br />
<br />
<br />
<span style="font-size: large; font-variant: small-caps;">Noch ein Glossar?</span><br />
<br />
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Nach
dem Erscheinen des Buches „101 Asservate – Alter Worte Welt“
bekam ich viele Anregungen auf Lesungen, per Post oder per E-Mail:
einzelne bedrohte Wörter oder gleich ganze Wortlisten, oft mit dem
freundlichen Hinweis, dieses und jenes habe man vermißt, und es gab
auch Lücken, die mir selbst ärgerlich schienen, weil ich sie erst
zu spät bemerkt hatte. </span><br />
<a name='more'></a><span style="font-size: large;">Obwohl ich mich durch das Interesse
geschmeichelt fühle, jedes Wort als Geschenk betrachte, weigere ich
mich, der Versuchung eines Folgebandes nachzugeben. Die Erfahrung
lehrt, daß solchen Projekten meistens die Frische und das
Ursprüngliche des Anfangs verloren gehen. Schon gar nicht
möchte ich mir das Etikett eines Laienetymologen und Wortklaubers
anheften, der aus Mangel an aktuellen Stoffen das Museum der Sprache
durchforstet, um hie und da ein wenig Staub wegzupusten und dabei
doch nur das Abgestandene und Verbrauchte anpreist. Wenn ich
nun doch wieder die Zettelkästen hervorhole, und dem Klang längst
verrauschter und verwehter Wörter nachhorche, geschieht das nicht in
der Absicht, die Asservatenkammer aufzufüllen, vielmehr aus dem
Wunsch heraus, den Reichtum unserer Muttersprache nicht ohne Not
preiszugeben; will heißen, wo mit dem Wort auch das Bezeichnete
selbst abhanden kommt, bleiben Leerstellen, die unsere Kultur und
zuletzt unsere Existenz infrage stellen. </span>
</div>
<br />
<br />
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large; font-variant: small-caps;">Vom
Gehen über Streuobstwiesen</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Hin
und wieder hebe ich einen angeschlagenen Apfel auf und beiße hinein,
bis aus seinem Kerngehäuse Wurmkot krümelt. Den angebissenen werfe
ich weg und stopfe mir die Taschen mit den am wenigsten beschädigten
voll. Der Duft des Herbstes begleitet mich auf dem Weg nach Hause. Am
heimischen Herd wird Mus oder Gelee gekocht. Die Vorräte an Zucker
schmelzen dahin. Minimale Kenntnisse in Physik helfen einem, die
Konserven haltbar zu machen. Man braucht die fest verschraubten
Gläser nur abkühlen zu lassen.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br />
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large; font-variant: small-caps;">Eine
Eselsbrücke bauen</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Die
Konstrukteure dieser Welt haben das Schießpulver nicht erfunden. Sie
wollen ja nicht, daß ihre Träume aus Stahl und Beton zu Staub
zerfallen. Irgendwann müssen sie damit rechnen, doch bis dahin
betreiben sie weiter ihr Stäbchenspiel, das wir auch als Mikado
kennen. Der Esel merkt sich jeden Weg, den er einmal im Leben
zurückgelegt hat. Aus diesem Grunde gelten Eselsbrücken als
besonders stabil. So folgte ich dem Großen Wagen durchs Labyrinth
der Sterne. Seit frühester Kindheit rumpelt er verläßlich über
den nächtlichen Himmel. Tagsüber wird viel gebaut, auch Häuser,
die lange Schatten werfen. Hat man sich erst den Raum erschlossen,
wird man vorwärts kommen, ohne ständig irgendwo anzustoßen.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br />
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large; font-variant: small-caps;">Die
Schwerenot</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">An
manchen Tagen möchte er sich einfach fallen lassen. Die Schwerenot
hat ihn ergriffen, und man könnte ihn einen Schwerenöter nennen.
Ein Bedeutungswandel, der nicht ganz nachvollziehbar ist, macht aus
ihm einen Schürzenjäger. Obwohl er weiß, daß sein melancholisches
Augenklimpern die Wirkung auf Frauen nur selten verfehlt, setzt er es
nur sparsam ein, um Verwicklungen oder lebenslange Fußfesseln zu
vermeiden. Auch der Epileptiker wird von Schwerenot heimgesucht.
Dieser beißt sich eher auf die Zunge als im Zustand höchster
Anspannung auf Brautschau zu gehen. Schlafwandler gehören zu einer
anderen Spezies. Sie fühlen sich auf abschüssigen Dächern so
sicher wie ein Weberknecht an der Wand.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br />
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large; font-variant: small-caps;">Spannelang
& nudeldick</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Mit
ihren spannenlangen & nudeldicken Wörtern macht sich die
deutsche Sprache nicht unbedingt Freunde in der blitzgescheiten Welt.
Fahnenflüchtig ist sie ja längt, und wer ihr hinterherflitzt, wird
womöglich auf die Nase fallen. Es knackt im Gebälk, aus vollen
Rohren zischt und pfeift es, wenn die Dampfmaschine vom Müßiggange
erlöst wird. Kennen Sie noch das Dativ-E? Für den Hausgebrauch ist
es kaum von Nutzen und die Worterkennungsprogramme halten es
mittlerweile für einen Blinddarm. Das deutsche Liedgut fristet auch
ein Schattendasein. Sonst würde man gleich einstimmen in
„Spannelanger Hansl, nudeldicke Dirn, schüttelst du die Pflaumen,
schüttle ich die Birn’. Schüttelst du die großen, schüttle ich
die klein’. Wenn das Säcklein voll ist, gehn mer wieder heim.“
Ist nicht ganz logisch, weil Pflaumen normalerweise kleiner sind als
Birnen, oder man muß sich ein Bäumchen-wechsle-dich hinzudenken.
Die Spanne mit 20 cm anzugeben, wie heute allgemein üblich,
beweist, daß das Maß von Langfingern erfunden wurde.</span></div>
<div class="MsoNormal" style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="text-align: justify;">
<span style="font-size: 14.0pt;"></span></div>
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
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<br />
<div class="MsoNormal" style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large; font-variant: small-caps;">Einen
Katzensprung weit</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Vom
Glück kleiner Entfernungen wissen die Alten ein wehmütig’ Lied zu
singen. Im Dorf meiner Großeltern, wo ich jedes Jahr einen Teil
meiner Ferien verbrachte, war alles einen Katzensprung weit entfernt:
der Bäcker, der Fleischer, der Konsum, die Kirche, das Kino. Kino
war eigentlich die falsche Bezeichnung, eine von den Städtern
übernommene, denn im Dorf hieß das Gewölbe, wo freitags Filme
gezeigt wurden, nur <i>der Festsaal</i>. Man könnte allein darüber
Geschichten erzählen. Von der Konkurrenz weltlicher Feierstunden zu
den Gottesdiensten, vom Anbändeln & von bösen Händeln, von
wechselnden Fahnentüchern & Losungen. Doch darum geht es hier
nicht. Obwohl es für das Kind nicht so leicht war, den Katzensprung
zum Bäcker, bei dem es nur eine bucklige Straße zu überqueren
hatte, mit dem Katzensprung zum Konsum, der über geheime
Schleichwege führte, zu vergleichen, fragte es nie, wie lang so ein
Katzensprung eigentlich sei. Man sagte auch nicht Katzensprünge; den
Katzensprung gab es nur im Singular, ganz gleich, wie viele und
wieviel verschiedene Wegstrecken damit umschrieben wurden.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<span style="font-size: large;">Jüngst habe ich meinem Onkel,
der noch immer im selben Dorf wohnt, einen Besuch abgestattet. Vom
Bahnhof ist es logischerweise nur ein Katzensprung bis zu seinem
Häuschen, das ein üppig blühender Vorgarten ziert. Seit ich selbst
einen erwachsenen Neffen habe, sage ich nicht mehr <i>Onkel,</i> zur
dritten Frau meines Onkels habe ich nie <i>Tante</i> gesagt. Aber
auch das gehört nicht hierher. Mich interessiert, was aus den
anderen Katzensprung-Objekten geworden ist. Der Festsaal?
Fehlanzeige. Nicht einmal mehr die Lücke, wo er einst stand, ist
geblieben; ein gut gepflegter Rasen mit Bänken löscht jede
Erinnerung an das Gebäude, das ich mir als ein Polygon aus Ziegeln,
Holz und Dachschiefer zurechtbastle. Keine Ahnung, ob er wirklich so
ausgesehen hat. Der Konsum? Der leerstehende Flachbau barg zuletzt
eine Niederlassung für Gärtnerbedarf. Inzwischen ist auch dieser
Handel unrentabel geworden. Bäcker & Fleischer, da weiß selbst
der Einheimische kaum noch, wo sie sich befanden. Es waren Läden in
Wohnhäusern, die man über eine Außentreppe oder durch einen
winzigen Anbau betrat. Die Schaufenster, falls es welche gab, sind
längst vermauert, das Mauerwerk neu verputzt und überstrichen. Nur
wer genau hinschaut, bemerkt vielleicht noch einen Wechsel in der
Körnigkeit des Mörtels, falls nicht Dämmplatten jede
Unterscheidung unmöglich machen. Zum Einkaufen muß der Dörfler in
die nächste Stadt fahren. Die war immerhin mal Kreisstadt und hat
von daher ein viel zu großes Rathaus. Allein die Kirche ist im Dorf
geblieben. Das ist ja auch nicht schlecht. Haben wir den Katzensprung
zum Kirchberg geschafft, sehen wir gleich, daß über die schadhaften
Treppen schon lange keine Schar Gläubiger mehr Einlaß begehrt hat.
Dabei stand sie schon einmal fast zwanzig Jahre ohne Turm da. Zwar
wurde der Turm rekonstruiert, allein die Kirchgänger blieben aus.
Wenigstens schlägt die Uhr pünktlich alle Viertelstunden. So ist
das nun auf dem Lande, sagt der Onkel und streichelt seinen
prächtigen Kater, der schon Winterfell hat. Der Kater kennt keine
Versorgungslücken. Ist die Amsel nicht flink genug, wird sie im
Katzensprung aus der Rotdornhecke gegrapscht.</span></div>
<div align="JUSTIFY" style="widows: 8;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="text-align: justify;">
<span style="font-size: 14.0pt;"></span></div>
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhc2NPENYF4PCgUrotXgTIKD2YYWgUcRBp-_iiHRkFdVXhqcbd96ZZMLK4uhnYPdhKcULFhPyXpqg_PVvAYlJA7bPetIvaHZspN7HU10_1nSaFqJ43ZCb7I2_Xq6OvJs2_XRI_CaMmUncI/s1600/DSCI0009.JPG" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" height="266" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhc2NPENYF4PCgUrotXgTIKD2YYWgUcRBp-_iiHRkFdVXhqcbd96ZZMLK4uhnYPdhKcULFhPyXpqg_PVvAYlJA7bPetIvaHZspN7HU10_1nSaFqJ43ZCb7I2_Xq6OvJs2_XRI_CaMmUncI/s400/DSCI0009.JPG" width="400" /></a></div>
<br />
<div class="MsoNormal">
<br /></div>
<div class="MsoNormal">
<br /></div>
<span style="font-size: large; font-variant: small-caps;">Ein schlafloses Haus</span><br />
<span style="font-size: large;">das mit Schnurren gefüllt
ist</span><br />
<span style="font-size: large;">und den Eindringling am
Schlafittchen packt.</span><br />
<br />
<span style="font-size: large;">Im Keller hängt ein
Blümerant in den Spinnweben.</span><br />
<span style="font-size: large;">Die Durchgänge sind mit
Schwellenangst bestrichen.</span><br />
<br />
<span style="font-size: large;">Im Treppenhaus lauert der
Kniefall </span>
<br />
<span style="font-size: large;">auf den unteren Stufen
lungert die Demut herum</span><br />
<span style="font-size: large;">und auf den oberen spukt die
Verunsicherung.</span><br />
<br />
<span style="font-size: large;">In der Küche herrscht das
Tohuwabohu.</span><br />
<span style="font-size: large;">Zwischen Brosamen windet sich
der Geduldsfaden.</span><br />
<br />
<span style="font-size: large;">Im Schlafgemach plustert sich
Lumpenpack</span><br />
<span style="font-size: large;">in das Lichtangeln eingewebt
sind.</span><br />
<span style="font-size: large;">Ein Geflissentlich huscht
über die Flure.</span><br />
<br />
<span style="font-size: large;">Nur immer hinein in den Salon
der Bekümmernis</span><br />
<span style="font-size: large;">mit seiner Gardinenpredigt</span><br />
<span style="font-size: large;">und dem Dahinwelken seines
Stillebens!</span><br />
<br />
<span style="font-size: large;">Allein das Oberstübchen </span>
<br />
<span style="font-size: large;">gebärdet sich frohgemut</span><br />
<span style="font-size: large;">und kehrt den Hansdampf
heraus.</span><br />
<br />
<span style="font-size: large;">Zahnspangenfrech grinst der
Weiland vom Dach.</span><br />
<div class="MsoNormal">
<br /></div>
<div class="MsoNormal">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="text-align: justify;">
<br /></div>
<div class="MsoNormal">
<br /></div>
<br />
<div class="MsoNormal">
<br /></div>
<div class="MsoNormal">
<br /></div>
<div class="MsoNormal" style="text-align: justify;">
<br /></div>
Anonymoushttp://www.blogger.com/profile/08823607379653018927noreply@blogger.com0